Das französische Entwicklerstudio Dontnod hat sich in den letzten zehn Jahren einen Ruf dafür erarbeitet, Spezialisten für storybasierte Abenteuer zu sein, die ihre Entscheidungsfreiheit in den Mittelpunkt stellen. Mit Life is Strange, Twin Mirror, und Tell me Why haben sie ihre Reputation immer wieder gefestigt und auch das neu angekündigte Lost Records zeigt, dass sich die Damen und Herren ihrer Stärke bewusst sind.
Alle Jahre wieder aber wird ein Titel produziert, der aus der Reihe tanzt. So war es 2018 bei Vampyr, das zusätzlich zu Dialoglastigkeit den Augenmerk auf sein Kampfsystem legte, und die Entscheidungsfreiheit vergangener Titel etwas…anders interpretierte. Und so ist es bei Jusant, das im Oktober 2023 erschien.
Wie auch bei anderen Spielen aus dem Hause Dontnod steht hier die Geschichte im Vordergrund. Der Unterschied besteht darin, dass diese nicht mehr über Dialoge transportiert wird, denn diese gibt es nicht: es gibt genau einen (menschlichen) Charakter im Spiel, den ihr steuert, und der sagt kein Wort. Die Geschichte wird erlebt statt erzählt.
Aber der Reihe nach: in der namenlosen Spielwelt herrscht eine beispiellose Dürre, und jegliches Wasser hat sich aufgrund des ausbleibenden Regens verflüchtigt (Jusant = französisch für „Ebbe“). Der ebenso namenlose Hauptcharakter macht sich auf eine Odyssee den mysteriösen Turm herauf, der früher Heimat von Seeleuten und Fischern war, heute aber verlassen ist. Er erhofft sich hier, das Geheimnis der Dürre zu lüften, und den Regen zurück zu holen. Auf seiner Reise unterstützt ihn ein knuffiger kleiner Begleiter mit ausgesprochen nützlichen Fähigkeiten.
Aus dieser Prämisse heraus ergibt sich auch das Kernelement des Gameplays: ihr klettert den Turm hinauf. Dabei steuert ihr linke und rechte Hand über die jeweiligen Trigger separat, was eine gewisse Lernkurve und ein Maß an Koordination erfordert. Diese Herausforderung stellt sich als Spielspaßgarant heraus, eine solche Form der Steuerung sieht man viel zu selten und wirkt erfrischend.
Planung und Taktik sind ebenfalls gefragt, denn ihr könnt nicht ewig klettern. Über ein Stamina-Meter seht ihr, wie es aktuell um die Kondition eures Charakters bestellt ist. Damit ihr nicht meterweit fallt, wenn mal die Puste ausgeht, und wieder von vorne anfangen müsst, könnt ihr außerdem eine begrenzte Zahl von Sicherungshaken während einer Kletterpartie anbringen. Diese Mechaniken werden vor allem im späteren Spielverlauf relevant, wenn die Strecken immer länger und fordernder werden, die ihr zurücklegen musst. Hinzu kommen die Fähigkeiten eures kleinen blauen Kompanions, die im Laufe eurer gemeinsamen Reise immer zahlreicher werden, und das Gameplay so weiter auflockern. Hier wurden sich offensichtlich Gedanken darüber gemacht, wie man verhindert, dass das bloße Klettern irgendwann langweilig wird, und hat schöne Ideen eingebaut, die genau das erreichen.
Abseits des Kraxelns findet ihr immer wieder Briefe und Tagebucheinträge der früheren Bewohner des Turms. So soll die Welt mit Leben befüllt werden, und ihr mehr über die Einzelschicksale erfahren. Anfangs funktioniert das auch noch und ihr lest über Fischer, die sich über den Rückgang des Wassers beklagen, oder Jugendliche, die abwägen, ob sie den Turm verlassen und ihre Familie zurücklassen sollen. Aber mit der Zeit lest ihr euch diese Dokumente dann auch nicht mehr durch, weil sich der Grundtenor selten ändert: „alles schlecht, will hier weg“. Okay, haben wir verstanden. Muss man sich jetzt nicht mehr jedes Mal penibel durchlesen und damit die Spielzeit künstlich aufblähen.
Da hilft es auch nicht, dass eine Menge dieser Collectables fast schon zu gut versteckt sind, und man sie im normalen Playthrough mühelos übersieht. Hier geht dann leider ein wenig der mühevoll aufgebauten Atmosphäre wieder verloren. Weitere Einblicke in die Hintergründe der Geschichte wären interessant gewesen, bspw. als Nebenquests, die das ganze interaktiv präsentieren, statt Frontalunterricht in Form von Texten.
Trotz alledem weiß Jusant seine Hauptgeschichte meisterhaft zu inszenieren. Grade bei den emotionalen Momenten hat es der Titel dann auch geschafft, mir das ein oder andere Tränchen in die Augen schießen zu lassen. Insbesondere das Ende ist für mich vermutlich mit einer der gefühlvollsten und authentischsten Gaming-Momente der vergangenen Jahre, der mit noch eine Weile im Gedächtnis bleiben wird.
Eine besondere Erwähnung verdient zu guter Letzt der fantastische Soundtrack von Guillaume Ferran. Mit Piano, Streichern und synthetischen Klängen unterstreicht der Franzose gekonnt die subtilen Momente als auch die großen emotionalen Storybeats. Das Album ist damit direkt in meine Playlist der besten Gaming-Soundtracks gewandert.
Eine kleine Kostprobe:
Jusant kann direkt hier erworben werden!
Fazit
Jusant ist nicht der komplexeste Titel, was das Gameplay angeht. Die Mechaniken sind abwechslungsreich genug, damit es nicht zu repetitiv wird, aber erwartet keinen Climbing-Simulator.
Wer hier zugreifen sollte, sind Fans von meditativer Atmosphäre und emotionalem Storytelling. In den 5 Stunden, die ihr mit dem Hauptcharakter und seinem wässrigen Freund verbringen werdet, werden euch die beiden und ihre Beziehung zueinander ans Herz wachsen. Und ironischerweise wird es zumindest vor dem Bildschirm regnen, wenn die Geschichte einmal fertig erzählt ist.
Jusant verdiente sich die
GAMAZINE GOLD TROPHY